Grenzen setzen, gewusst wie: Wie es Ihnen noch besser gelingt, erfolgreich Nein zu sagen
Stellen Sie sich vor, es ist spätnachmittags und Sie wollen gerade noch vor Ihrem Feierabend eine anspruchsvolle Aufgabe in Ruhe erledigen. Plötzlich kommt Ihr Chef überraschend mit einer umfangreichen Anfrage auf Sie zu. „Können Sie das bitte noch heute erledigen?“ „Klar Chef, kann ich“, erwidern Sie zähneknirschend und verlegen Ihren wohlverdienten Feierabend um zwei Stunden nach hinten. Lieber hätten Sie Nein zu dieser Anfrage gesagt, aber das haben Sie sich einfach nicht getraut. Dafür zahlen Sie den Preis, dass Sie wieder mal Überstunden produzieren. Den Ärger über den verspäteten Feierabend tragen Sie mit nach Hause und lassen ihn vielleicht unkontrolliert an anderer Stelle heraus.
Haben Sie gewusst, dass über anderthalb Milliarden Überstunden in Deutschland im vergangenen Jahr gemacht wurden. Und diese kolossale Summe an Überstunden kommen nicht daher, dass Leute »Nein« sagen, wenn man von ihnen erwartet, über den Feierabend hinaus zu arbeiten oder extrafrüh anzufangen. Laut einer Erhebung der Krankenkasse AOK haben sich die Fälle von Arbeitsunfähigkeit auf Grund von Burn-out im vergangenen Jahrzehnt verdoppelt, jede zweite Arbeitnehmerin und jeder zweite Arbeitnehmer in Deutschland fühlt sich davon bedroht. Das bedeutet, dass jede zweite berufstätige Person das Gefühl hat, dass das, was sie zu tun hat, sie psychisch und körperlich krank macht. Man kann also sagen, dass die Fähigkeit und die Möglichkeit, »Nein« zu sagen, absolut gesundheitsförderlich, wenn nicht sogar lebensverlängernd wirken kann.
Reflexion hilft „Zeitdiebe“ zu überführen
Aber warum sagen wir dann nicht öfters einfach mal „Nein“? Nein zu sagen fällt offenbar schwer. Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu geben, das wir stillschweigend befolgen. Nein zu sagen ist per se unhöflich und schadet meiner Karriere. Sie werden sicherlich jetzt einwenden, dass man seinem Chef nun mal nicht zu widersprechen hat, denn der Chef hat immer Recht, oder? Doch diese ungeprüfte Vorannahme kann zu einem „mentalen Schluckauf“ mit gravierenden Folgen führen. Wird das nicht Nein-Sagen jedoch zur Gewohnheit, bleibt schnell die eigene Zufriedenheit auf der Strecke. Ständiges Nachgeben schafft auf Dauer viel zu viel überflüssigen Frust.
Machen Sie sich bewusst: Tag für Tag rauben uns überraschende „Störungen“ bis zu 25 Prozent unserer Arbeitszeit. Schließlich gibt es ja nicht nur den gefürchteten „Chef-Torpedo“, wie eingangs skizziert. Die Bandbreite möglicher „Zeitdiebe“ reicht von der freundlichen Kollegenanfrage über spontane Kundenwünsche bis zum Chef. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Sie werden aus Ihrem Arbeitsprozess heraus-gerissen, verlieren wertvolle Zeit und müssen sich nach der Unterbrechung stets erst wieder aufs Neue mühevoll in Ihr Themengebiet hineindenken. Um diesen zeitraubenden Kreislauf zu unterbrechen, sollten wir als Erstes eine Ursachen-analyse durchführen. Fragen wir uns zuerst: Welche Gründe sind eigentlich dafür ausschlaggebend, dass wir oft große Schwierigkeiten mit dem Nein-Sagen haben?
Selbermachen spart Zeit
Das ist sicherlich der größte Denkfehler. Oberflächlich betrachtet haben Sie sicherlich kurzfristig Zeit gewonnen. Sie wissen ja auf Grund Ihres Erfahrungswissens, wie es am schnellsten geht. Zusätzlich haben Sie auch die Gewähr, dass es richtig gemacht wird. Doch auf Dauer befriedigen Sie damit nur Ihren Kontrollgedanken. Alles Selbermachen bringt Sie nicht wirklich weiter und führt auf Dauer eher in die Mittelmäßigkeit. Es bindet wertvolle Zeitressourcen und laugt aus.
Höflichkeit hat Vorfahrt
Natürlich wollen Sie niemanden vor den Kopf stoßen. Schließlich wäscht bekanntlich eine Hand die andere. sie brauchen ja in anderen Situationen auch die Unterstützung von anderen. Doch bedenken Sie: Die Schattenseite der Höflichkeit heißt oft Friedhöflichkeit.
Eigenes Helfersyndrom befriedigen
Natürlich tut es gut, anderen spontan weiterzuhelfen, und spendet in der Regel auch Anerkennung. Sie können so auch Ihren Expertenstatus untermauern und Eindruck schinden. Zusätzlich beleben Sie den wichtigen Solidaritätsgedanken untereinander. Schließlich wäscht eine Hand die andere. Sie brauchen ja in anderen Situationen auch die Unterstützung von anderen. Sie wissen: Niemand ist eine Insel.
Aufgaben sind nicht klar genug abgegrenzt
Oft ist einfach nicht klar, wer für was der richtige Ansprechpartner ist. Ein unklares Aufgabenprofil kann zu zeitraubenden Redundanzen führen. Fehlende Zuständigkeiten sind ein verheerender Energiegully und rauben uns wertvolle Ressourcen im Umgang miteinander.
Hierarchien sind stets zu würdigen
Es ist wie beim Kartenspiel: Ober sticht Unter. Der Chef hat immer recht und muss zuerst bedient werden. Diese Einstellung verursacht aber auf Dauer eher schöne „Spannungskopfschmerzen“.
Konsequenzen sind unklar
In vielen konkreten Alltagssituationen herrscht schlichtweg die Angst vor Konsequenzen. Wir trauen uns deshalb nicht, eine Bitte abzulehnen, zumal in der heutigen unsicheren Jobsituation die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust sehr weit oben rangiert.
Lösungsstrategie: Hilfe zur Selbsthilfe
Immer wieder kommt es vor, dass wir es auch mit „toxischen“ Kollegen zu tun haben. Diese besondere Kollegenspezies hat es darauf abgesehen, sich Kollegen zu suchen, die sie vor ihren Wagen spannen kann. Sie sind angeblich nicht in der Lage, z. B. eine Kundenpräsentation fertigzustellen oder eine Exeltabelle zu pflegen und brauchen mal wieder schnell noch Ihre Hilfe. Aus reiner Gutmütigkeit sagen Sie wieder ja zu der Störung und spielen bereitwillig dieses „Täter-Opfer-Spiel“ mit. Das Tückische an dieser Situation ist, dass dieses Machtspiel so lange weiter gespielt wird, bis Sie bereit dazu sind, die Spielregeln zu ändern. Nur wenn Sie bewusst erkannt haben, dass Sie stets in der Opferrolle sind, können Sie auch den Schalter umlegen. Steigen Sie aus diesem Machtspiel aus, indem Sie Folgendes ausprobieren: Fordern Sie Ihren Kollegen zu einer „Selbsthilfeaktion“ auf. Das könnte zum Beispiel so klingen:
„Herr Schulze, im letzten Monat sind Sie viermal zu mir gekommen mit der Bitte, schnell noch ein paar Grafiken für eine dingende Kundenpräsentation fertigzustellen. Das kostet mich jedes Mal 30 Minuten extra. Meine eigene Arbeit bleibt dabei liegen. Ich helfe Ihnen diesmal noch einmal, wünsche mir jedoch nun von Ihnen, dass Sie sich genau aufschreiben, wie dieser Arbeitsschritt funktioniert. Das nächste Mal können Sie es dann selber machen. Ich helfe Ihnen dann nicht mehr, einverstanden?“
In der Regel haben Sie mit dieser Variante gewonnen. Der Kollege hat erkannt, dass er dieses Spielchen nicht mehr mit Ihnen machen kann, und wird sich deshalb ein neues Opfer suchen. Sie haben ihm eine klare Grenze aufgezeigt und müssen sich jetzt nur noch um Konsequenz bemühen.
Lösungsstrategie: Win-Win-Situation schaffen
Schaffen Sie eine echte „Win-Win-Situation“. Natürlich können Sie nicht jede Kollegenanfrage abschmettern. Was Sie aber auf jeden Fall machen können, ist, eine konkrete Gegenanfrage zu stellen. „Gerne helfe ich Ihnen in dieser Frage schnell weiter. In einer anderen Sache bräuchte ich hingegen auch etwas von Ihnen. Könnten Sie mir …“
Somit haben auch Sie einen anfassbaren Vorteil aus dieser Situation gewonnen und gehen gestärkt aus dem Gespräch heraus.
Lösungsstrategie: Gegenseitigkeit funktioniert
Hiermit ist das Prinzip der Reziprozität gemeint. Das Gefühl kennt jeder: Wer eine Gefälligkeit erhalten hat, hat das Bedürfnis, sich dankbar zu erweisen und diese zu erwidern – sogar wenn ihm der Schenkende nicht besonders sympathisch ist. Deshalb sind auch Werbegeschenke und Gratisgaben so weit verbreitet. Aus der Verhaltensforschung ist bekannt, wie sich die Höhe des Trinkgeldes ändert, wenn Kellner mit der Rechnung auch eine kleine Aufmerksamkeit wie ein paar Pfefferminzbonbons an den Tisch bringen. Tatsächlich sind diejenigen Gäste, wenn sie zwei Bonbons bekommen, in der Regel bis zu 14 Prozent großzügiger als jene, die leer ausgingen. Wurde den Gästen die Aufmerksamkeit mit einer persönlichen Bemerkung überreicht, stieg das Trinkgeld sogar um 23 Prozent.
Dieses Wirkgesetz lässt sich auch auf andere Berufssituationen gut übertragen. Persönliche Zugeständnisse, die Sie einem Mitarbeiter machen, funktionieren ähnlich. Sie werden von Ihren Kollegen als Entgegenkommen gewertet, das den Verhandlungspartner dazu veranlasst, ebenfalls einen Schritt auf sein Gegenüber zuzugehen. Angenommen, Sie wollen von Ihrem Chef die Zustimmung für eine Fortbildung erhalten. Natürlich wissen Sie auch, dass das Fortbildungsbudget recht knapp bemessen ist. Dann wäre es z. B. geschickt, zunächst für eine kosten- und zeitintensive Fortbildungsmaßnahme anzufragen. Wird diese abgelehnt, reduzieren Sie Ihre Bitte und schlagen ein nur zweitägiges Seminar vor. In der Regel steigt Ihre Chance, dass der Chef diese zweite, bescheidenere Bitte gewährt.
Auf unseren Zusammenhang übertragen, bedeutet das Reziprozitätsprinzip: Jeder Gefallen, dem man einem Kollegen tut, und jedes Entgegenkommen, das ein Vorgesetzter seinen Mitarbeitern gegenüber zeigt, ist eine lohnende Investition in ein hilfreiches Netzwerk. Bedenken Sie: Vieles wirkt auf eine subtile Weise. Bringen Sie Ihren Verhandlungspartner in eine indirekte „Schuld“. Früher oder später wird er das Bedürfnis verspüren, diese „Schuld“ zu tilgen und Ihnen etwas Gutes zu tun.
Ziehen wir an dieser Stelle ein kurzes
Fazit: Die oben aufgeführten Lösungsstrategien zeigen, dass Sie sehr wohl über attraktive Wahlmöglichkeiten im Umgang mit Ihren ganz persönlichen „Zeitdieben“ verfügen. Haben Sie nur eine Handlungsoption, so sind Sie zwanghaft in Ihrer Reaktion. Verfügen Sie nur über zwei Handlungsoptionen, so unterliegen Sie einem „Entweder-oder-Muster“. Auch diese Option ist wenig lustvoll. Die wahre Freiheit fängt jedoch erst mit Option drei an.
Probieren Sie es aus, es lohnt sich.
Herzlichst,
Achim Neubarth
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